Ja, wer kennt das nicht: Prinzessin auf der Erbse, Mimose, Zimperliese – die wohl die häufigsten Assoziationen, die die Menschen im Kopf haben, wenn man ihnen erzählt, dass man hochsensibel ist. Und ja, Sensibilität hatte lange Zeit keinen guten Ruf. Wird sie doch oft gleichgesetzt mit Dünnhäutigkeit, Reizbarkeit, extremer Emotionalität und Empfindlichkeit. Und auch, wenn es sicherlich hochsensible Frauen (und Männer) gibt, die dieser Beschreibung entsprechen, beschreiben diese Eigenschaften das Wesen hochsensibler Menschen nur sehr unzutreffend.
Als Elaine Aron sich ihrer Forschung zu hochsensiblen Personen im letzten Jahrhundert zuwandte, beschrieb sie zunächst Menschen mit einer hohen Sensibilität in der sensorischen Verarbeitung von Reizen (high sensory-processing sensitivity). In Alltagsdeutsch übersetzt bedeutet das, dass wir in allen Situationen, die wir erleben, deutlich mehr wahrnehmen als andere Menschen. Sowohl unsere 5 Sinne als auch unsere emotionale Empfangsantenne nehmen mehr Informationen auf, die es anschließend zu verarbeiten gilt. Das kann man sogar an unserer Gehirnaktivität messen, wie inzwischen wissenschaftlich untersucht wurde.[1]
Sowohl unsere 5 Sinne als auch unsere emotionale Empfangsantenne nehmen mehr Informationen auf, als andere Menschen.
Doch wir nehmen nicht nur mehr Informationen und Reize in unserer Außenwelt war, wir verarbeiten sie auch tiefer. Hochsensible Personen denken über viele Situationen des Alltags oft noch länger nach, reflektieren diese und schauen sich das Geschehene von allen Seiten gründlich an. Gleichermaßen fühlen sie das Erlebte nach, müssen es auch emotional reflektieren und verarbeiten. Das führt zu zwei Phänomenen, die viele HSPs miteinander teilen: Zum einen brauchen wir relativ viele Ruhephasen und Zeit für uns alleine, um die erlebten Reize zu verarbeiten. Und zum anderen versuchen wir, Situationen, die zu Reizüberflutung führen können, schlichtweg zu vermeiden. So sind vielen hochsensiblen Menschen ausgiebige Shoppingtouren, Menschenmassen oder Partys mit stundenlangem Smalltalk ein echtes Gräuel. Stattdessen verbringen wir lieber einen Abend mit einem interessanten Gesprächspartner, gehen in der Natur spazieren oder lassen unserer kreativen Ader freien Lauf.
Was hochsensiblen Menschen gut tut, hängt auch davon ab, welche ihrer Sinne besonders sensible auf Reize von außen reagiert. Bei den meisten sind das nicht alle fünf Sinne gleichzeitig, sondern 2-3 sind besonders ausgeprägt. So kann es sein, dass eine hochsensible Person auf Geräusche und visuelle Reize besonders empfindlich reagiert. Eine Tätigkeit in einem Großraumbüro mit weiß-kalter LED-Beleuchtung wäre für diese Person wohl ein eher suboptimaler Arbeitsplatz. Andere hochsensible Menschen sind eventuell besonders empfindlich was ihren Geruchssinn oder ihren Geschmackssinn betrifft. Für sie ist ein Spaziergang in einem Blumengarten ein wahrer Genuss, andere Ort sind jedoch gleichermaßen auch eher belastend. Als Studentin habe ich mal neben einer Brauerei gewohnt und jedes Mal das Weite gesucht, wenn dort wieder etwas zusammengebraut wurde.
Hochsensibilität betrifft kulturübergreifend ca. 15-20% der Bevölkerung.
Nach dem Elaine Aron den Grund dafür entdeckt hatte, warum sie sich immer etwas „anders“ gefühlt hatte und wissenschaftlich belegen konnte, dass es noch mehr Menschen gab, die diese Hochsensibilität erlebten, vertiefte sie sich weiter in ihre Forschung. Sie fand heraus, dass diese erhöhte sensorische Wahrnehmung kulturübergreifend zu beobachten ist und ungefähr 15-20% der Bevölkerung betrifft. Inzwischen gilt Elaine Aron als eine der herausragenden Persönlichkeiten in dem sich immer weiter entwickelnden Feld der Forschung zum Thema Hochsensibilität.
Hochsensible Menschen sind also weder Prinzessinnen noch Prinzen auf der Erbse, sondern tieffühlende, sehr empathische Wesen, die viele Dinge wahrnehmen und die Welt mit ihrer Perspektive bereichern. Sie sind oft feinfühligen, empfindsam, empathisch und legen einen großen Wert auf Verbundenheit und Authentizität.
Leider fühlen sich viele hochsensible Menschen aber nicht wirklich als eine Bereicherung für die Welt, sondern schlichtweg „anders“. Sie haben das Gefühl (vermittelt bekommen), nicht reinzupassen in dieser Welt, in der es allzu oft oberflächlich, schnell und nüchtern zugeht. Eine Welt, die es im Allgemeinen belohnt, wenn man laut ist, seine Person gut verkaufen kann und ein großes Netzwerk an Freunden und Bekannten spielend pflegen kann. Leider haben sie oft auch die Erfahrung machen, dass das was sie wahrnehmen und als Kinder (noch) aussprechen, von ihrem Umfeld negiert wird. Ihnen wird immer wieder zurückgemeldet, dass das, was sie wahrnehmen, nicht stimme. Und so verlernen leider viele hochsensible Personen auf ihre Wahrnehmung zu vertrauen und richten sich eher nach dem, was andere ihnen als wahr und richtig vorleben. Dabei verliert sie aber oft nicht nur das gute Gespür für die Wahrnehmung der Außenwelt, sondern auch für sich selbst. Was bleibt, ist das Gefühl, das mit einem irgendwas nicht stimmt und der große Wunsch, irgendwie reinzupassen. Doch leider lässt sich Hochsensibilität nicht wegmachen. Sie ist eine vererbte Veranlagung.[2] Und so, wie man jemandem mit blauen Augen nicht sagen würde, dass sie mit grünen Augen viel schöner aussehen würde, so ist auch Hochsensibilität nicht einfach gegen „normal“ eintauschbar.
Viele meiner hochsensiblen Coachees müssen zu Beginn des Coachings erstmal wieder lernen, auf ihre inneren Impulse und ihre Wahrnehmung zu vertrauen. Dann entdecken sie Stück für Stück welchen Wert sie in die Welt bringen. Und sie lernen, sich selbst und ihre sensible Veranlagung als echte Stärke zu erkennen und in allen Lebensbereichen einzusetzen. So sind wir in Beziehungen zu anderen oft sehr aufnahmefähig für die Stimmungen anderer und können sehr empathische, tiefe Verbindungen schaffen (und gleichzeitig müssen wir oft lernen, uns auch mal abzugrenzen und nicht nur für andere zu sorgen). Am Arbeitsplatz sind hochsensible Mitarbeiterinnen häufig gewissenhaft und loyal, gleichermaßen ist es Ihnen wichtig, dass die Stimmung im Team gut ist und sich alle an ihrem Arbeitsplatz wohl fühlen. Es gibt noch tausende anderer Stärken, die ganz individuell ausgeprägt sind und die doch, wenn wir lernen ihnen zu vertrauen und sie selbstbewusst einzusetzen, zu einer besseren Welt beitragen können.
[1] Acevedo, B. P. et al., 2014. The highly sensitive brain: an fMRI study of sensory processing sensitivity and response to others‘ emotions.
[2] Zimbardo, P. G., & Gerrig, R. J. (2004). Psychologie. München, S.608.